Nun, wahrscheinlich hat jedes Gebirge so seine Eigenarten und Sagengestalten. Es rührt wohl daher, daß sich die einfachen Menschen früher vor den dunklen, undurchdringlichen Wäldern und tiefen Tälern der Gebirge fürchteten. So kamen die Bergregionen zu ihren Sagen, Geistern und Räubern, ohne die die heutigen Tourismus-Marketinggesellschaften wohl einen ungleich schwereren Stand hätten. Aber so hat der Harz seine Hexen, das Erzgebirge den Stülpner-Karl, das Riesengebirge den Berggeist Rübezahl und das Altvatergebirge den Räuber Hotzenplotz. Gelegentlich begegnen einem diese Gesellen noch, so fliegen z.B. im Harz die Hexen zur Walpurgisnacht immer noch auf den Brocken. Wobei sie nach eigenen Beobachtungen mittlerweile in immer größerer Zahl die Brockenbahn nutzen, statt den eigenen Besen.
Nun ja, die gestiegenen Treibstoffpreise machen halt auch vor den Hexen nicht halt und eine Befreiung von der Kerosinsteuer, wie im Luftverkehr üblich, gilt meines Wissens nach nicht für Hexenbesen. Doch egal wo, Angst vor Hexen, Räubern, Drachen und anderen Ungetümen braucht heute keiner mehr zu haben, sie werden heute nur noch zur Erbauung der Touristen von der Kette gelassen. Aber Halt, gab es da nicht eine Ausnahme? Richtig, im fernen Altvatergebirge, in Mährisch Schlesien im Nordosten der tschechischen Republik gelegen, tut sich doch noch gar Merkwürdiges
Es ist aber nicht der Räuber Hotzenplotz, der wieder sein Unwesen treibt, nein, in den dunklen Wäldern, tiefen Tälern und hohen Bergen regt sich nach wie vor ein anderes Wesen aus alter Zeit, das ansonsten schon ausgestorben ist. Mit einem tiefen Gebrumm bahnt sich dieses Geschöpf mehrmals täglich unverdrossen seinen Weg zwischen Sumperk, Hanusovice und Jesenik, und erklimmt dabei den über 700 Meter hohen Ramzova-Paß, und verschlingt auf seinen Wegen zahllose Menschen! Aber einige spukt es auch wieder aus und spätestens in Sumperk oder Jesenik ist sein Bauch wieder leer.
Wer nun aber angstvoll nach einem tapferen Ritter sucht, der dieses Ungetüm zur Strecke bringt, der sei beruhigt. Man braucht es gar nicht zur Strecke bringen, es fährt nämlich darauf, genauer auf der auch als „Schlesischer Semmering“ bezeichneten Eisenbahnstrecke von Zabreh nad Morave bzw. Sumperk über Hanusovice, Ramzova, Lipova Lazne bis nach Jesenik. Es ist wohl nun jedem klar, daß ich hier nicht von einem alten, schuppigen, feuerspeienden Drachen spreche, sondern von einem alten urigen, wackeren Triebwagen der tschechischen Bahn.
Gehört doch das Altvatergebirge mit seinen herrlichen Bahnstrecken zu den letzten Rückzugsgebieten der fast schon ausgestorbenen Dieselveteranen der Baureihe 831, genannt „Nähmaschine“. Gebaut wurden diese Triebwagen von 1949 bis 1960 von Tatra, CKD sowie Wagonka Studenka in insgesamt 238 Exemplaren als Baureihe M 262. Interessanterweise sind nie passende Beiwagen gebaut worden.
Die Fahrzeuge besitzen einen dieselelektrischen Antrieb, der die Wagen bei einer Leistung von 301 kW (410 PS) bis auf 90 km/h beschleunigt. Da es aber häufiger Motorprobleme bei den Wagen gab, wurden in Sumperk von 1981 bis 1991 insgesamt 41 Triebwagen mit anderen Motoren ausgerüstet, wobei Leistung und Höchstgeschwindigkeit unverändert blieben. Zur Unterscheidung erhielten die remotorisierten Wagen die Baureihenbezeichnung M 262.1, mit der Einführung der EDV-Nummern bei der CSD wurden die M 262 zur Baureihe 830, die M 262.1 zur Baureihe 831.
Doch mit dem Verkehrsrückgang nach 1990 sowie der Auslieferung der neuen Triebwagen der Baureihen 842 und 843 von 1993 bis 1997 schien die Zeit der Dieseloldtimer der Reihen 830 und 831 abgelaufen. Reihenweise wanderten sie auf den Schrott oder starteten in ein neues Leben als Museumswagen. Doch einige Exemlare dieser Baureihe erwiesen sich dann doch als äußerst zäh und langlebig. So gab es bis Dezember 2007 immer noch drei Reservate für unsere alten Nähmaschinen. Dies war Decin, das seine letzten 830 immer noch auf der Elbtalstrecke bis nach Dolni Zleb schickte, das war Klatovy, wo man mit 831 noch durch den Böhmerwalt bollerte, und das war Sumperk mit seinen 831, die sich im Altvatergebirge austobten.
Doch zum Fahrplanwechsel im Dezember 2007 sollte nun endgültig schluß sein. Tatsächlich stellte Decin seine letzten 830 ab, damit war diese Baureihe Geschichte. Auch in Klatovy wurden keine neuen Umlaufpläne für den 831 aufgestellt, es kam jedoch sehr bald das Gerücht auf, daß die alten Nähmaschinen noch nicht zur Ruhe gekommen waren, man fuhr in Klatovy nun halt wild. Doch der Paukenschlag Anfang 2008 kam aus dem Altvatergebirge, wo in Sumperk erneut ein dreitägiger Umlaufplan für die Baureihe 831 aufgestellt und gefahren wurde. Und heute, wie ist die Situation im Oktober 2010? Klatovy setzt seine letzten 831 nach wie vor wild ein, in Sumperk ist aus dem dreitägigen Umlaufplan nur noch ein zweitägiger Plan geworden, der aber recht zuverlässig gefahren wird
Es dürften noch fünf 831 in Sumperk einsatzfähig sein. Leider gab es am 1. September 2009 einen schweren Auffahrunfall, als 831 110 und 831 234 zwishen Horni Lipova und Ramzova zusammenstießen. Während 831 110 repariert werden konnte und inzwischen wieder im Einsatz ist, hat für 831 234 das letzte Stündlein wohl geschlagen. Andererseits hat sich mittlerweile ein anderer Dieselveteran an die Seite der alten Nähmaschinen gestellt, und zwar die dieselhydraulischen 800-PS-Boliden der Reihe 851. Auch diese, 1967/68 gebauten Triebwagen werden langsam selten und haben im Altvatergebirge ein Reservat gefunden. Allerdings werden die 851 hautsächlich auf der Strecke Sumperk – Olomouc bis Unicov eingesetzt, einzelne Leistugen bringen sie aber auch bis Jesenik, bzw sogar als Spätpendel bis nach Zlate Hory.
Wer also tschechische Dieseloldtimer in iner äußerst reizvollen Umgebung erleben möchte, dem sei das Altvatergebirge wärmstens empfohlen. Doch es sei doch zu etwas Vorsicht geraten, die tiefen Wälder bergen manch weitere Überraschung. So kann durchaus aus den Tiefen des Waldes urplötzlich ein infernalisches Gedröhn schallen. Keine Angst vor wilden Tieren, es könnte sich dabei aber durchaus um einen Schnellzug von Jesenik nach Brno handeln. Diese Schnellzüge, gebildet aus Wagen der Gattung Y/B 70 vom VEB Wagonbau Bautzen, werden mittlerweile eigentlich von Diesellokomotiven der Reihe 754, wegen ihrer markanten Stirnfront besser bekannt als „Brillenschlange“ oder „Taucherbrille“, gezogen. Doch bis Anfang diesen Jahres war vor diesen Zügen noch die Vorgängerin der 754, die Baureihe 749, anzutreffen.
Großes äußeres Unterscheidungsmerkmal ist das Fehlen der charakteristischen Brille bei der 749, aufgrund ihrer etwas wulstigen Stirnfront verpßten die tschechischen Eisenbahner der Maschine in Anlehnung an den Körperbau von Brigitte Bardot den Spitznamen „Bardotka“. Wie sich die Eisenbahner doch gleichen. Hatten doch die Bundesbahner ihrer Vorserien – V 160 aus gleichem Grund den Namen „Lollo“ verpaßt, Namensgeberin hier war Gina Lollobridgida. Doch der kleine, aber feine Unterschied zwischen den Baureihen 749 und 754 macht sich spätestens nach dem Start des Motors akustisch eindrucksvoll bemerkbar.
Die Konstrukteure der Bardotka hielten nämlich einen Schalldämpfer für einen durchaus überflüssigen Ballast. Und so röhrten die 749 bis Anfang 2010 zur Freude des Eisenbahnfreundes (der sich dabei aber wohl kaum der ungeteilten Zustimmung der Anwohner erfreuen konnte) mit ihren Schnellzügen über den Ramzova-Paß. Nun, dies ist zwar eigentlich Geschichte, doch gelegentlich mogelt sich halt doch noch eine 749 an den Zug und sorgt für ein Donnergrollen in den sonst so stillen Gebirgstälern.
Ja, eigentlich gibt es noch viel über dieses Eisenbahn-Reservat zu erzählen, und eines muß ich auch noch los werden. Hätte ich doch fast die „Osoblaschka“ vergessen. Jaja, immer auf die kleinen. Fährt man nämlich von Jesenik aus nicht in Richtung Ramzova-Paß, sondern in nördliche Richtung, da kann man auch durchaus Überraschungen erleben. Nun, der Fahrzeugeinsatz hier ist schon fast eintönig, einmal am Tag ein 831 nach Mikulovice, einmal am späten Abend ein 851 nach Zlate Hory, ansonsten fahren hier nur die 810er „Brotbüchsen“, oder, im Eil-und Schnellzugverkehr von Jesenik Richtung Krnov, Opava oder Ostrava-Svinov, die 843.
Hinter Mikulovice drosselt dann der Triebwagen seine Fahrt und schleicht über ausgefahrene Gleise in den Bahnhof Glucholazy, wo einerseits der Gegenzug schon wartet, andererseits wird hier Kopf gemacht. Der Bahnhof Glucholazy hatte auch schon bessere Zeiten, strahlt aber immer noch ein pures Flair der Reichsbahn aus, verfügt er doch noch über ein typisch preußisches Emfangsgebäude aus Klinkern, ein hölzernes Bahnsteigdach und Reichsbahn-Formsignale. Aber Moment mal, wieso strahlt ein tschechischer Bahnhof ein typisches Reichsbahn-Flair aus? Was hat ein preußisches Bahnhofsgebäude im ehemals österreichischen Mähren verloren? Strahlen doch tschechische Bahnhöfe, wenn überhaupt, dann eher ein österreichisches Flair aus.
Nun, die Erklärung ist recht einfach: Wir sind in Polen! Hinter Mikulovice haben wir die tschechisch – polnische Grenze überquert. Nachdem wir den Bahnhof Glucholazy verlassen haben, tuckern wir noch ein paar Kilometer durch Polen, um dann, kurz vor dem Bahnhof Jindrichuv ve Slezku, wieder tschechische Schienen unter die Räder zu nehmen. Eine Attraktion des Bahnhofes Jindrichuv ve Slezku waren die Formsignale alter österreichischer Bauart. Im September diesen Jahres mußte ich entsetzt feststellen, daß sie inzwischen modernen Lichtsignalen weichen mußten.
Nächster Halt des Zuges ist Tremesna ve Slezku. Schon vor dem Bahnhof ist ein Blick nach rechts empfehlendswert. Schwenkt doch ein vom Norden kommendes Schmalspurgleis in einem weiten Bogen auf die Hauptstrecke ein und begleitet sie bis in den Bahnhof. Jenes Schmalspurgleis hat die landesübliche Spurweite von 760 mm und bildet den Fahrweg für die bereits erwähnte „Osoblaschka“.
Es handelt sich dabei um die letzte Schmalspurbahn der tschechischen Bahn, die leider immer etwas im Schatten der mittlerweile privatisierten Schmalspurbahnen von Jindrichuv Hradec steht. Ihr Ziel hat die Bahn im rund 20 km entfernten Osoblaha, dem ehemaligen Hotzenplotz. Anders als in Deutschland werden auf tschechischen Schmalspurbahnen Diesellokomotiven eingesetzt, zwischen Tremesna und Osoblaha fahren im Regelverkehr ausschließlich Lokomotiven der Baureihe 705.9. Die Leistung dieser, 1958 von CKD gebauten, dieselelektrischen Lokomotiven beträgt 350 PS, die Höchstgeschwindigkeit beträgt 50 km/h. Auf der Strecke werden aber höchstens 40 km/h gefahren.
Im Schnitt fünf mal am Tag pendelt nun eine solche Lokomotive, behängt mit einem Personenwagen, zwischen beiden Endpunkten und benötigt für eine Fahrt rund 45 Minuten. Sämtliche Unterwegsstationen sind unbesetzt und strahlen einen gewissen morbiden Charme aus, auch alle Hauptsignale an der Strecke sind verschwunden. Untrügliches Zeichen dafür, das diese kleine Bahn ihre beste Zeit hinter sich hat.
Der eine Personenwagen ist in der Regel halb leer, 10 Fahrgäste sind schon viel. Kein Wunder, liegen doch die meisten Unterwegshalte der Bahn außerhalb der dazugehörigen Ortschaften. Da ist der Bus für viele wohl die bessere Alternative, so man nicht von Vornherein mit den eigenen vier Rädern unterwegs ist. Doch auch der Güterverkehr auf dieser Bahn steht still, er wurde 1997 eingestellt.
Wer nun angesichts dieser Tatsachen eine heruntergelotterte Bahn erwartet, die augenscheinlich auf dem letzten Loch pfeift, der täuscht sich. Die Fahrzeuge sind, wie eigentlich überall in der tschechischen Republik, ordentlich und gepflegt, auch der Oberbau ist in sehr gutem Zustand. Man setzt auf den touristischen Wert der Schmalspurbahn, dazu kommt in den Sommermonaten auch ein Dampfzug zum Einsatz. Dieser Zug wird gezogen von einer ehemals rumänischen Waldbahnlokomotive der Reihe 764, als Wagen dienen ein paar eher kitschig wirkende Sommerwagen. Nun, dieser Dampfzug ist halt ein Touristikzug und keine Museumsbahn.
Ein weiteres Probem dieser Bahn ist jedoch ihr Endpunkt. Der Bahnhof Osoblaha liegt auch recht weit außerhalb des Ortes, wer sich aber nach Osoblaha hineinwagt, hat auch ein ganz spezielles Erlebnis. Gehört doch Osoblaha zu den wohl trostlosesten Orten, die ich jemals gesehen habe.
Viele Häuser stehen leer, es überwigt graue Tristesse aus sozialistischen Tagen. Aber das Bier ist billig, ein halber Liter Holba kostete im September 2010 umgerechnet 72 Cent. Andererseits hat Osoblaha auch eine eher tragische Geschichte. Einst war Hotzenplotz, wie Osoblaha früher hieß, ein gut gehender Marktflecken, der bereits im 13. Jh das Stadtrecht verliehen bekam. Es waren auch die Stadtväter von Hotzenplotz, die sich maßgeblich für den Bau der Schmalspurbahn einsetzten. Mit den Münchener Verträgen von 1938 kam die Gegend um Hotzenplotz jedoch zum faschistischen deutschen Reich, die Schmalspurbahn wurde fortan von der Deutschen Reichsbahn betrieben. Die Nazis in ihrem Rassenwahn vertrieben oder ermordeten erst einmal die Juden auch die tschechische Bevölkerung wurde drangsaliert.
Dann wurde Hotzenplotz noch im April 1945 durch Kampfhandlungen fast völlig verwüstet. Anschließend wurde durch die Benes-Dekrete auch noch die deutsche Bevölkerung vertrieben. Von diesem Aderlaß, der auch zur Aberkennung des Stadtrechtes im Jahr 1960 führte, hat sich Osoblaha anscheinend bis heute nicht erholt.
Wie lange also die Schmalspurbahn überhaupt noch fährt, dazu möchte ich lieber keine Prognose abgeben. Rentabel ist sie auf alle Fälle schon lange nicht mehr, wie hoch aber der touristische Wert in dieser eher abgelegenen Gegend ist, ist schwer zu sagen. Auf alle Fälle fährt sie noch und die technische Substanz der Bahn scheint noch recht gut zu sein.
Also auf ins Altvatergebirge, es warten wunderschöne Landschaften, historische Triebwagen, altbekannte Schnellzugwagen, verträumte, gepflegte Bahnhöfe, freundliche Menschen und eine interessante Schmalspurbahn.
Euer Volker Reiche
Der Bahnwaerter (C) 1997 – 2010
52.433000
13.217000